Gastartikel und Interview im Blog von Nürnberg unposed Collective. Eine Einladung, die allgemeinen Regeln des Genres hin und wieder zu hinterfragen
Es gibt in Deutschland nicht viele Fotografen, welche sich in so kurzer Zeit einen derart markanten Stil erarbeiten und sich national wie international Anerkennung und diverse Auszeichnungen verdient haben – Guido Klumpe, alias @streetphotograph.de.
Hallo Guido, herzlich willkommen bei uns im Blog und vielen Dank für deinen Beitrag.
Herzlichen Dank für das große Kompliment und Eure Einladung, das freut mich sehr!
Erzähl doch kurz, wer du bist und was du machst.
Ich bin 49 Jahre alt und lebe mit Partnerin und zwei Katzen in Hannover. Mein Geld verdiene ich als Sozialpädagoge bei der „Stiftung Anerkennung und Hilfe“. Das ist eine Bundesstiftung, die ehemalige Heimkinder unterstützt, wenn sie dort Leid und Unrecht erlebt haben.
Wie kamst du zur Fotografie, bzw. insbesondere zur Streetfotografie?
Zur Fotografie kam ich als Jugendlicher, ich habe ehrenamtlich in einem Jugendzentrum geholfen und wurde gefragt, ob ich nicht Konzerte fotografieren möchte. Da hat es mich gepackt. Später baute ich dort ein Fotolabor auf und zeigte den Kids die ersten Schritte mit der Kamera. 1993 war ich 9 Monate in Asien auf Rundreise und entdeckte die Streetfotografie, ohne zu wissen, dass es das Genre überhaupt gab. Mit dem Studium kamen andere Interessen. 2016 entdeckte ich meine Leidenschaft für das Genre durch eine Dokumentation über die Streetfotografen in New York wieder.
Wie würdest du selbst deine Streetfotos / deinen Stil beschreiben bzw. charakterisieren, wie hat er sich über die Jahre verändert?
Anfangs dachte ich, Schwarz-Weiß sei das einzig wahre Street. Mir war schon immer die Komposition wichtig und probierte fröhlich das Befolgen und Brechen der Gestaltungsregeln. Nach einem Urlaub am Mittelmeer und den Farben dort war es vorbei mit SW. Plötzlich fand ich das monochrome fade. Die Farben auf meinen Bildern wurden immer kräftiger und klarer, die Bildgestaltung reduzierter und fokussierter. Mittlerweile sehe ich die Stadt als eine urbane Landschaft, deren Formen, Farben und Licht ich in Bezug zu ihren Bewohnern dokumentiere. Mit dem Beginn der Pandemie ist mein Stil wesentlich abstrakter und minimalistischer geworden, und ich habe mir erlaubt, auch Bilder ohne Menschen zu machen. Was soll man sonst machen, wenn der Virus die Straßen leerfegt?
Nimm uns kurz mit auf Fototour – wie entstehen deine Bilder, was ist dein Ansatz / deine Herangehensweise?
Momentan bin ich gerne in den Randgebieten und Ausfallstraßen von Hannover unterwegs- Gegenden, die ich vor Corona noch Öde gefunden hätte. Mittlerweile liebe ich die Gegenden, wo es viele Outlets, Einkaufszentren, Autohäuser usw. gibt. Viele farbigen Fassaden, grafische Formen und weiter Himmel. Und Menschen, die sich in diesen Kulissen bewegen. Es ist wie eine Bühne, mit der ich spielen kann. Ich achte auf grafische Marker, an denen mein Auge hängenbleibt. Es ist, als wenn sie aufleuchten. Das kann alles Mögliche sein, z.B. ein Einkaufszentrum mit gestaffeltem Dach, oder ein Poller vor einer farbigen Wand. Und dann fang ich an, es durchzuarbeiten, es zu abstrahieren. Dafür drehe ich mehrere Runden um das Objekt, gehe in die Knie, gehe weit weg und nahe dran. Es ist wie Lego spielen: Im Kopf nehme ich alles auseinander und setze es neu zusammen. Ich suche Linien, die sich treffen. Übereinander gesetzte Formen, die den Himmel in ein grafisches Element verwandeln usw. Für eine Tankstelle oder einen Möbelshop kann das locker über eine Stunde dauern. Am Anfang sehe ich nur das Offensichtliche, die spannenden Bildideen kommen nicht sofort. Manchmal stimmt auch das Licht nicht und ich komme zu einer anderen Tageszeit wieder. Oft überlagere ich mehrere Elemente und ziehe die Blende klein, damit alle Ebenen scharf werden und der Betrachter die Orientierung verliert. Mir geht es um den fragilen Moment, in dem sich dreidimensionale Elemente des Stadtbildes in eine zweidimensionale abstrakte Fotografie verwandeln, die eine ausgewogene Bildspannung zeigt. Ein gutes Bild ist für mich eines, dass nicht sofort zu verstehen ist. Ein gutes Bild fängt die betrachtende Person und bringt sie dazu, sich Fragen zu stellen: Was ist das? Wo ist vorne und Hinten? Was passiert außerhalb des Bildes? Am liebsten bin ich an sonnigen klaren Tagen unterwegs, denn dann leuchten Farben ganz besonders und durch die harten Kontraste gewinne ich mehr Gestaltungsmöglichkeiten. Wo immer möglich, versuche ich Menschen in die Szenerie einzubauen, doch das klappt nicht immer. Und da ich mich als Streetfotograf verstehe, würde ich nie Statisten nehmen, auch wenn das manchmal hart ist.
An anderer Stelle sprichst du über deine Sehbehinderung – inwieweit schränkt dich diese in deiner Fotografie ein oder macht vielleicht gerade deine Fotografie aus?
Seit Geburt sehe ich nur auf dem rechten Auge. Und mehr als 25% sind damit auch nicht drin. Ich denke, beides stimmt. Es ist eine Einschränkung und macht zugleich meine Fotografie aus. Die Einschränkung ist, dass mir viele Details entgehen, die andere Fotografen sofort sehen, gerade solche genialen Juxtapositionen eines Siegfried Hansen oder Francesco Sembolini. Und es macht mich zu einem langsamen Fotografen. Ich baue meine Bühnen auf und bin gezwungen zu warten- fürs klassische candid bin ich einfach zu lahm. Und zugleich bestimmt mein Sehen meine Fotografie: Täglich erlebe ich, wie mir mein Sehen einen Streich spielt. Was ich für einen Hund auf der Wiese halte, war nur eine Plastiktüte. Oder die Treppe führt nicht dahin, wie ich vermutet habe. Das verarbeite ich spielerisch auf meinen abstrakten Fotografien: Wenn sich die betrachtende Person fragt, was wohl vorne oder hinten ist, was oben und was unten, dann freue ich mich. Das Foto funktioniert. Ich vermute, dass ich damit ein bisschen was von meiner Erfahrung teilen möchte.
Was gibt dir die Streetfotografie, was bedeutet sie für dich?
Ich würde gerne davon leben. Es gibt nichts Erfüllenderes für mich. Mir fehlt nur noch ein Sammler, der mir das ermöglicht. 😉 Streetfotografie bringt mich an und über die Grenzen meines Sehens. Durch die Fotografie sehe ich mehr von der Welt. Es ist großartig wenn andere mögen, was ich sehe.
Danke dir, lieber Guido – das tun sie ganz offensichtlich! Lass uns doch noch ein wenig tiefer eintauchen in deine Streetfotografie – DER BLOG GEHÖRT GANZ DIR….
Es fühlt sich seltsam und unmoralisch an, für das Virus und den Shutdown dankbar zu sein.
Corona macht Menschen krank und einsam, tötet sie und zerstört Existenzgrundlagen. Nein, ich bin nicht dankbar für Corona. Aber ich bin dankbar für eine Begleiterscheinung: Die menschenleeren Straßen während des ersten Lockdowns im Frühling 2020. Aber von Anfang an:
Ich bin Mitglied der „Unposed Society Hannover“. Wir sind ein Kollektiv, dass erst einige Zeit nach der Gründung gemerkt hat, dass der Begriff „Unposed“ eigentlich schon von einem anderen Kollektiv aus Süddeutschland besetzt ist 😉. Jedenfalls haben wir uns ein Projekt ausgedacht: „Hold the line, please!“. Sieben Jungs, sieben Straßenbahnlinien in Hannover. Jeder hat sich eine Linie ausgesucht und sollte von Januar bis Juni 2020 entlang dieser Linie fotografieren. Die besten Fotos wollten wir im August auf einer Ausstellung präsentieren. Ist natürlich ausgefallen.
Es ist der 24. März 2020. Lockdown, Tag 2. Herrliches Sonnenwetter, klare Luft, und strahlende Farben. Ich habe Urlaub und richtig Lust aufs Knipsen. Ich schwöre mir aufzupassen, auf Abstand zu bleiben und gehe raus. Aber es ist kein Mensch auf der Straße. Niemand. Gelangweilt laufe ich meine Straßenbahnlinie entlang einer Ausfallstraße und erreiche einen Wohnkomplex mit verschiedenfarbigen, kubistischen Häusern. Irgendetwas zieht mich an. Ich denke „Was soll´s. Ich kann´s ja auch wieder löschen“ und fange an zu experimentieren. Ich fotografiere Häuserecken, und suche Hintergründe, die dazu passen. Es fühlt sich seltsam und unvertraut an, denn ich bin doch ein Streetfotograf. Ich fotografiere Menschen.
An dem Tag habe ich gemerkt, wie einschränkend so ein Satz sein kann. Dadurch, dass ich auf die Möglichkeit verzichte, einen Menschen ins Bild zu bekommen, eröffnen sich ganz neue Möglichkeiten: Ich kann bestimmen, was oben und unten ist, was vorne ist und was hinten. Ich kann den Himmel zu einem grafischen Element machen und nach Belieben das Auge verwirren.
„Das ist doch kein Street!“ werden manche vielleicht denken. „Warum denn nicht, wo genau ist die Linie?“ wäre meine Antwort. Und: „Was ist daran so schlimm?“. Schaut Euch Siegfried Hansen oder Francesco Sembolini an. Beides höchst anerkannte und erfolgreiche Streetfotografen, beide machen minimalistische und abstrakte Fotografie, wenn ihnen danach ist. Es gibt so einige Sätze, die in der Streetszene kursieren: Richtige Streetfotografen sind nur mit Weitwinkel bis maximal 35mm auf der Straße, Tele und Zoom geht schon mal gar nicht, wahres Street ist nur candid aus naher Entfernung usw.
Ich denke, solche Schubladen und Regeln können Kreativität fördern und Orientierung bieten. Nur mit 35mm zu fotografieren kann Kreativität fördern, weil es eine Einschränkung ist, die Dich dazu bringt, nah an das Motiv zu gehen und mit verschiedenen Blickwinkeln und Ebenen zu arbeiten, um das Bild „klarer“ und „tiefer“ zu bekommen.
Aber es kann auch eine Einschränkung sein, die Dich in der künstlerischen Entwicklung behindert. Was davon stimmt, kannst nur Du sagen. Hör auf Deine Intuition. Besonders wenn Du das Gefühl hast festzustecken und denkst, Du hast alles schon mal gesehen und fotografiert, geh raus und vergiss, dass Du Streetfotograf bist. Vergiss, wie Street zu sein hat.
Wenn Du nur monochrome fotografierst, mach mal was in Farbe und umgekehrt. Bist Du nur mit 28mm unterwegs, leih Dir ein 135mm Objektiv und mach einen auf Saul Leiter. Nimm Dir für einen Walk vor, keine Menschen zu fotografieren. Oder nur mit einer achtel Sekunde. Such Dir Linien, die auf andere Linien treffen. Mach einen Tag nur unscharfe Fotos vom Boden aus. Finde eine Woche lang raus, was man fotografisch
mit Autos machen kann. Mache eine Serie von Pflanzen in der Stadt, zum Beispiel von den „Gärten des Grauens“.
Die Möglichkeiten sind endlos.
Man hört immer wieder, dass es erstrebenswert ist, „seinen“ Stil zu entwickeln, unverwechselbar zu werden. Ich finde das stimmt. Es lässt sich aber nicht erzwingen. Das kommt mit der Zeit. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Je mehr Du experimentierst und die Vorstellung davon loslässt, wie andere Street definieren, desto eher findest Du Dein Thema. Gib Dich nicht zu schnell zufrieden mit Deinen Fotos. Sei nicht zufrieden mit dem Offensichtlichen. Gehe tiefer. Zeige nicht nur, was da ist, sondern auch, wie Du es siehst. Entdeckst Du einen interessanten Ort, nimm Dir Zeit. Erforsche die Szenerie, probiere verschiedene Standorte und Blickwinkel, arbeite mit Ebenen. Komm wieder zu einer anderen Tageszeit oder Lichtsituation.
Hätte mir jemand im Februar 2020 gesagt, dass ich in Kürze ein bisschen dankbar für menschenleere Straßen sein würde- ich hätte ihn für verrückt erklärt.
*Möpp, fieser: Rheinischer Regionaldialekt für einen unangenehmen, unfreundlichen oder garstigen Menschen
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